Vor einiger Zeit ließ ich mir von einer Freundin beim Abstecken helfen. Eine näherfahrene Frau, die selber Nähkurse gibt.
Angesichts noch allzudeutlicher Paßformfehler in Form von *hüstel* ‘Engstellen’ fragt sie mich: “Wie willst du es denn haben?” Ich sage: “Na, normal. Wo’s zu eng ist, ist ja klar.”
“Tja,” bekomme ich zur Antwort, “das mit der Paßform ist halt so Geschmackssache. Die einen wollen’s so. Die anderen lieber weiter… da gibt es keinen Standard.”
Ich habe dann erst einmal geklärt, was ich wie haben will und es mir so abstecken lassen.
Dann habe ich einige Tag nachgedacht.
Ist das so? Ist Paßform nur noch “Geschmackssache”?
Gut, das erklärte immerhin, warum ich immer wieder in Blogs Bilder sehe, wahlweise von deutlich zu engen oder formlos sackartig zu weiten Blusen, Shirts oder Jacken, unter denen steht: “Das ist mein Lieblingsschnitt, denn er paßt ohne Änderung perfekt.”
Aber… nein, verflixt.
Guter Sitz ist nicht nur Geschmackssache.
Es gibt Standards wo die Schulternaht verlaufen sollte, wo ein Revers sitzen, wie viel Bewegungsweite über die Brust gehört, wo der Stoff Falten werfen darf und wo sie nicht hingehören oder wie eine Hose den Po umhüllen. (Und oh ja, man sieht, ob ein Kleidungsstück einfach zu weit ist oder eine modische Mehrweite hat.)
Sicher, Beliebigkeit ist bequemer. Aber tun den Regeln in dieser Form weh?
Nein. Denn sie nehmen doch niemandem die individuelle Entscheidung weg zu sagen, “Ich persönlich will es aber enger.” Oder “Ich will den Schritt aber tiefer.”
Und, ja, von einer Nähkursleiterin erwarte ich, daß sie diese Standards auch ihren Schülern erklärt und zeigt.
Denn erst wenn ich den Standard kenne, dann kann ich bewußt von ihm abweichen.
Und statt einem schlecht sitzenden Kleidungsstück habe ich meine ganz persönliche modische Aussage.
Was anderes tun die von uns oft bewunderten Couturiers, Modeschöpfer oder Fashion Designer auch nicht.
Und wir können das auch! Aber erst wenn ich die Regeln beherrsche, kann ich auch mit ihnen spielen.